Rotgelbe Legenden - Eine Serie von Manfred Kraus

Teil 9 über Drahomir Kadlec


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Der ESV Kaufbeuren hat fabelhafte Spieler in seinen Reihen gehabt. Sogar Weltmeister. Vladimir Martinec, Bohuslav Stastny, Frantisek Cernik, Pavel Richter, Sergej Schendelew. Dazu weltberühmte Ausnahmekönner vom Schlage eines Jan Suchy und vortreffliche Puckvirtuosen, wie Oto Hascak einer war. Begnadete Eishockeycracks allesamt. Aber nur einer ist als Kaufbeurer Spieler Weltmeister geworden. Drahomir Kadlec, der Abwehrstratege aus Böhmen. Läuferisch und technisch eine Augenweide, höchstes taktisches Niveau, ein Künstler auf Kufen, der bei seinem fulminanten Schlagschuss indessen auch die Axt auszupacken vermochte.

Drahomir Kadlec hatte schon einiges hinter und noch allerhand vor sich, als er im Sommer 1993 ins Allgäu gelangte. Siebenundzwanzigjährig. Im besten Eishockeyalter. Mit seiner Dynamik trieb er das Spiel der Rotgelben energisch an. Gleichzeitig bescherte seine Routine der Kaufbeurer Defensive Sicherheit und Standfestigkeit. Er nahm das Heft in die Hand. Hatte Stehvermögen. Und die Übersicht eines Adlers dazu. Das Spiel lesen konnte der Klasseverteidiger ohnehin wie kein Zweiter. Meisterhaft zog er die Fäden. Seine eindrucksvollen Aufbaupässe erhoben ihn im Handumdrehen zum Denker und Lenker. Der Rechtsschütze besaß das Gespür für den Augenblick und einen kräftigen Schuss Genialität obendrein. Gekonnt verband er die spielerische Leichtigkeit der osteuropäischen Eishockeyschule mit moderner Athletik. Ein Ass, dem bisweilen ein Anklang von Bruder Leichtfuß die leise Note des Schlitzohrs verlieh. Finesse zeichnete seine aufsehenerregenden Darbietungen aus. Sie gerieten zum ästhetischen Genuss.

Groß geworden war Drahomir Kadlec beim sechsfachen tschechoslowakischen Meister Poldi Kladno, bei dem er 1984 bereits als Achtzehnjähriger im Seniorenteam debütiert hatte. Nach der zwischenzeitlichen Ableistung seines Militärdienstes beim Armeesportklub Dukla Jihlava und der anschließenden Rückkehr in die mittelböhmische Eishockeyhochburg Kladno lief er gegen Ende der Achtziger noch mit den blutjungen Himmelsstürmern Jaromir Jagr und Martin Prochazka auf, um sich schließlich 1990 gen Finnland auf den Weg und beim Spitzenverein Helsinki IFK einen Namen zu machen. Als unverzichtbare Größe übernahm er auch in der Nationalmannschaft seines Heimatlandes bei Weltmeisterschaften und Olympischen Winterspielen eine Führungsrolle. Nicht zuletzt bei den spannungsgeladenen Titelkämpfen 1996 in Wien, die Tschechien in einen überschwänglichen Freudentaumel versetzten und Drahomir Kadlec zum absoluten Höhepunkt seiner beeindruckenden Laufbahn gereichten.

Trikot ESV Kaufbeuren Ladislav Lubina

In dem hochklassigen Turnier trumpften die Tschechen groß auf, sie dominierten läuferisch wie spielerisch, eilten von Sieg zu Sieg, schlugen ausnahmslos alle großen Eishockeynationen und errangen in einem famosen Endspiel gegen Kanada den ersten Weltmeistertitel nach elf langen Jahren. Ein aufsehenerregender Erfolg, der einem Befreiungsschlag gleichkam, wurde mit ihm doch nicht nur eine Durststrecke beendet, sondern durch den Gewinn der ersten großen Meisterschaft ohne Mithilfe der slowakischen Brüder auch eine neue Epoche eingeläutet. Mittendrin der Kaufbeurer Antreiber Drahomir Kadlec, der in Würdigung seiner überragenden Leistungen zudem ins Second All-Star-Team berufen wurde – ein Umstand, dessen Außergewöhnlichkeit man sich in aller Ruhe vergegenwärtigen muss, um sein Gewicht zu gewahren und seine Dimension zu begreifen. Da stand in den Reihen der Kaufbeurer Adler doch tatsächlich ein Spieler, der bei der Weltmeisterschaft die Goldmedaille errang, aus dem Team des Weltmeisters nicht wegzudenken war und von den Fachleuten als einer der vier besten Verteidiger des gesamten Turniers eingestuft wurde. Ein Augenblick zum Innehalten. Einmalig. Einzigartig. Großartig.

Drahomir Kadlec stand in der Blüte seiner Jahre und wohl auch im Zenit seiner Schaffenskraft. Kein Wunder also, dass er in Kaufbeuren der unumstrittene Topverteidiger war, in hohem Maße Verantwortung übernahm und enormen Belastungen standhielt. Deren Bewältigung verlangte ihm allerhand ab, weshalb eine Weiterverpflichtung breiter Schultern wie jener des Bruce Cassidy, heute Headcoach beim Stanley-Cup-Finalisten Boston Bruins, als dauerhafte Unterstützung und Entlastung über das Jahr 1994 hinaus wertvoll gewesen wäre. Die Brillanz des Drahomir Kadlec trug die Adler trotzdem durch stürmische Zeiten. Seine unwiderstehlichen Sololäufe fegten durch die gegnerischen Slalomstangen, seine tödlichen Pässe in die Schnittstellen rissen Abwehrmauern ein, seine stoische Ruhe und seine gewaltige Präsenz glätteten heranrollende Angriffswogen. Drahomir Kadlec war der Go-to-Guy, der auch voranging, wenn es eng wurde. Mit ihm gelang in einer immer dünner werdenden Luft dreimal der Sprung in die Playoffs der Bundesliga und der vierundneunzig eingeführten Deutschen Eishockeyliga – und selbst sein letztes Jahr an der Wertach, in dem die Adler den steinigen Umweg über die Playdowns nehmen mussten, ist in warmer Erinnerung geblieben, feierte der Berliner Platz seinerzeit doch nicht nur heiße italienische Nächte, sondern auch den vorzeitigen Klassenerhalt durch eine bärenstarke Serie gegen die hoch gehandelten Frankfurt Lions, die eigentlich die deutsche Meisterschaft an den Main hatten holen wollen.

Ausgangs einer großen Kaufbeurer Eishockeyepoche beeindruckte Drahomir Kadlec das fachkundige Publikum vier Jahre lang mit seinem Können, seiner Klasse, seiner Kunst – und mit seiner Wiener Goldmedaille verlieh er der traditionsreichen Hockeytown Kaufbeuren ein unvergleichliches Glanzlicht. Höchste Zeit, die Erinnerung zu entstauben und die Meisterleistung des Drahomir Kadlec zurück ins Bewusstsein zu holen, mag sie doch im Schatten des 97er Adlerausstiegs aus der DEL und der ihn begleitenden Wirren ein Stück weit in den Hintergrund gedrängt worden sein.

In der Idylle des Allgäus, wo die nachhaltige Kraft mannschaftlicher Geschlossenheit seit jeher oberste Priorität genießt, haben immer wieder auch Weltklassespieler ihre zweite Heimat gefunden. Drahomir Kadlec ist einer von ihnen. Sogar ein herausragender. Schließlich gelang dem ausgefeilten Techniker das einzigartige Kunststück, als Rotgelber Eishockeyweltmeister zu werden. Ein goldener Stein im Mosaik des kleinen Eissportvereins mit der großen Tradition.

 

Drahomir Kadlec

Geboren: 29. November 1965 im mittelböhmischen Pribram (deutsch: Freiberg)

Körpergröße: 181 cm

Rückennummer: #5

Position: Verteidiger

ESVK und Adler: Vier Jahre Bundesliga und DEL (1993 bis 1997) mit 170 Spielen, 35 Toren, 72 Assists

Erfolge mit dem ESVK: Einmal Viertelfinale (1994), zweimal Achtelfinale (1995 und 1996), einmal Klassenerhalt DEL (1997)

International für die CSSR und Tschechien: Sieben Weltmeisterschaften (1987, 1989, 1990, 1992, 1993, 1994, 1996), zwei Olympische Spiele (Albertville 1992 und Lillehammer 1994), Canada Cup (1987), World Cup of Hockey (1996

Größte Erfolge: Weltmeister und Berufung ins Second All-Star-Team (1996), Olympiabronze (1992), fünfmal WM-Bronze (1987, 1989, 1990, 1992, 1993)

 

Text: Manfred Kraus, Apfeltrach
Grafik: Manuel Ort

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