Ein langes, kurzes Jahr. Abschied von einem Mythos.

Die Kultbühne Berliner Platz geht in ihre letzte Spielzeit.


Geschrieben von

Von Manfred Kraus

Die Zeit lässt sich nicht anhalten und aufhalten lässt sie sich schon gleich gar nicht. Das morbide Gasthaus Bad, in dem anno sechsundvierzig der Füssener Xaver Unsinn wieder aufgetaut wurde, nachdem er bis zum Hals im Jordanweiher eingebrochen war, ist den Weg alles Irdischen bereits gegangen. Schon bald wird ihm die benachbarte Eishalle folgen. Sie hat ausgedient. Ihr Ende ist besiegelt. Im Frühjahr 2017 fällt der letzte Vorhang. Einen neuen Aufzug wird es nicht geben. Es heißt Abschied von einer Kultstätte zu nehmen, von einer Herzensangelegenheit, vom Mythos Berliner Platz.

Rückblende. Kaufbeuren im Advent zwölf. Zehn Tage vor Heiligabend. Ein Freitag. Die Meisterschaftspartie gegen den Sportclub Riessersee wird am Vormittag kurzfristig abgesagt. Das Eisstadion ist mit sofortiger Wirkung gesperrt. Gutachter hegen Zweifel an seiner statischen Belastbarkeit. Der Schock sitzt tief. Es kommt aber noch schlimmer. Hiobsbotschaft reiht sich an Hiobsbotschaft. Die Halle bleibt dauerhaft gesperrt. Sie ist in ihrer Substanz bedroht. Und der Verein in seiner Existenz, die nur noch am seidenen Faden hängt. Der ESVK steht auf der Straße. Mit all seinen Mannschaften. Er hat seine Heimat eingebüßt. Muss auf Wanderschaft gehen. Mit Sack und Pack. Er erfährt aber Solidarität. Ist für zehn lange Monate auswärts drhoim. Schultert die existenzbedrohende Herkulesaufgabe. Meistert sie in einem unvergleichlichen Kraftakt. Zieht den Kopf aus der Schlinge. Beeindruckt durch seinen Zusammenhalt, sein Durchhaltevermögen, seine innere Kraft. Kann sich auf die Unterstützung seiner Freunde und Anhänger verlassen. Alle legen sich mächtig ins Zeug. Die Eishockeyfamilie rückt noch enger zusammen. Gemeinsam ist der ESVK stark. Die altgediente Heimstatt am Berliner Platz wird notdürftig saniert und trotzdem zum Auslaufmodell mit knapp bemessenem Haltbarkeitsdatum. Ein neues Eisstadion soll entstehen. Der Stadtrat beschließt den Bau mit deutlicher Mehrheit. Derweil werden Fronten aufgebaut in der Stadt. Nach Irrungen und Wirrungen kommt es zum Urnengang. Alles steht auf dem Spiel. Die Bürger aber sprechen ein Machtwort. Bekräftigen überzeugend, dass die Eishockeyhochburg Kaufbeuren wirklich eine Hockeytown ist. Das Licht am Ende des Tunnels wird heller. Der Eishockeysport an der Wertach sieht Land. Sein Traditionsverein spürt wieder Boden unter den Füßen. Aufbruchsstimmung macht sich breit.

Die dem Abbruch geweihte Eishalle entstand Ende der Sechziger. Sie katapultierte den Eissportverein Kaufbeuren damals in eine neue Dimension, galt als eine der modernsten des Landes, als Vorzeigeobjekt und als Schmuckkästchen. "Achtundfünfzig hatten wir Kunsteis und Holztribünen bekommen", ordnet ESVK-Gründungsmitglied und Eishockeyurgestein Fritz Sturm (86) die Dinge ein, "das war unheimlich wichtig und gab uns einen Schub. Die Stadionüberdachung und der Bau der Betontribünen stellten dann elf Jahre später einen weiteren Meilenstein in der Vereinsgeschichte des ESVK dar."

Die vereinseigene Arena mit ihren 6300 Besucherplätzen vermittelte seinerzeit ein neues Eishockeygefühl und sie legte auf Jahrzehnte hinaus den Grundstein für künftige Erfolge, eröffnete sie doch gleichermaßen dem Spitzensport und der Nachwuchsarbeit vielfältige Entwicklungsmöglichkeiten. Beide sind ohnehin eng miteinander verwoben. Sie bedingen einander. Das eine ist ohne das andere nicht denkbar. Damals wie heute. Talentschmiede Kaufbeuren. Spitzenmannschaft Kaufbeuren.

Gleich der erste Akt bot großes Theater. Noch ehe sich die Ländermannschaften Deutschlands und Jugoslawiens im Dezember 1969 zum internationalen Stelldichein an der Wertach einfanden, kreuzte nämlich bereits im September zum ersten Bundesligaspiel ausgerechnet der schwäbische Erzrivale Augsburger EV mit seinen Haudegen Paul Ambros, Leonhard Waitl, Gori Köpf und Jozef Capla im Jordanpark auf. Mit dreitausend Schlachtenbummlern im Schlepptau. Die neue Halle erlebte einen Massenandrang. Sie bebte und drohte gleich bei ihrer Feuertaufe aus allen Nähten zu platzen. Achttausend Menschen zwängten sich schließlich auf die hoffnungslos überfüllten Tribünen, um dem nervenaufreibenden Derby beizuwohnen. Die Gäste aus der Fuggerstadt strotzten nur so vor Selbstbewusstsein. Curt Frenzel hatte soeben für 135.000 Mark die gesamte Eishockeyabteilung des FC Bayern München mitsamt allen Ausrüstungsgegenständen aufgekauft. Fredl Hynek, Mandi Hubner, Joe Scholz und Alfred Lutzenberger aber stemmten sich mit ihren Kameraden vehement dem AEV entgegen. Sie obsiegten im spannungsgeladenen Prestigeduell, gewannen in einem dramatischen Kampf auf Biegen und Brechen mit 6:5. Ein bewegtes und bewegendes halbes Jahrhundert Kaufbeurer Eishallengeschichte nahm seinen Anfang.

Viel Wasser ist seit der Stadioneröffnung die Wertach hinabgeflossen. Siebenundvierzig Jahre sind vergangen, um genau zu sein. Siebenundvierzig Jahre, in denen der ESVK berauschende Höhenflüge erlebte und bedrückende Talsohlen durchwanderte, in denen überschwängliche Jubelarien erklangen und bittere Tränen flossen. Der Berliner Platz ist derweil in die Jahre gekommen, altehrwürdig geworden und schließlich auch marode. Und trotzdem. Obwohl die Eishalle dem Zeitgeist längst nicht mehr Genüge zu tun vermag, schlägt das Kaufbeurer Eishockeyherz noch immer kraftvoll in ihr. Sie strahlt etwas Erdiges aus, etwas Echtes und Ehrliches, etwas Glaubwürdiges, ist ein Hort der Tradition und ein Schatzkästchen der Erinnerung. Ihre dicken Wurzeln gründen tief. Sie hat etwas zu erzählen. Geschichten, die einmal ein gutes Ende genommen haben, ein andermal nicht. Gerade das aber macht den ESVK und den Berliner Platz aus. Beide sind wie das wahre Leben.

Wer den Berliner Platz besucht, der zieht weder seine Jacke aus noch ein Opernglas aus der Tasche. Die Luft ist frostig, aber erfüllt von Nähe. Unmittelbarkeit verdichtet die Stimmung. Zwischen dem Publikum und dem Spielgeschehen bleibt bestenfalls Platz für den milchigen Hauch der Atemwolken. Auf dem Vorplatz treffen sich die Eishockeyphilosophen zum Pausengepräch, während die Becher am Bierstand sehr wohlwollend eingeschenkt werden. Ein Lächeln gibt es obendrein gratis dazu. Nebenan gleicht die Geschäftsstelle im Abendlicht einem Schnappschuss auf einem Schwarzweißfilm. Die Treppenaufgänge sind ausgetreten, die Holzverkleidungen rissig, die Mauern und Wände haben tiefe Kratzer, Narben und Falten. Wenn aber die rotgelben Hauptdarsteller auf dem Eis alles geben, brennt die Hütte. In Kaufbeuren werden Siege gefeiert, die Heimmannschaft darf aber auch einmal verlieren, wenn es mit fliegenden Fahnen geschieht. Man liebt sie am Berliner Platz, die Rieflers und Oppolzers.

Den Gästeteams indessen flößen die Stadionatmosphäre und die Begeisterungsfähigkeit des Kaufbeurer Publikums seit jeher Respekt ein. "Ich bin von den unvergesslichen Landshutspielen geprägt. Nachdem unsere Leistungsträger Vladimir Martinec und Bohuslav Stastny in Niederbayern während des Warmlaufens bei ausgeschaltetem Licht zusammengeschlagen worden waren", entsinnt sich Miguel Neumann (46) aus Irsee lebhaft der goldenen Achtziger, als der ESVK zweimal nacheinander kräftig an das Tor zur Endspielserie um die deutsche Meisterschaft klopfte, "herrschte am Berliner Platz eine unglaubliche Atmosphäre. Noch immer bekomme ich eine Gänsehaut, wenn ich bloß daran denke. Die weit mehr als sechstausend ESVK-Anhänger waren aufgebracht und sie verwandelten das Stadion in eine Hölle. Hätte jemand ein Streichholz angezündet, wäre der Hexenkessel wahrscheinlich explodiert."

Die Leidenschaft genießt das Vorrecht, sich frei wie ein Vogel zu fühlen. Die mitreißende Stimmung unter dem durchhängenden Hallendach des Berliner Platzes aber hat ihrem Erwachen schon immer unzweifelhaft Vorschub geleistet. "Der Augenblick, der mich rotgelb berührt hat", erzählt der Krumbacher Uli Niedermair (55) mit leuchtenden Augen, "liegt dreißig Jahre zurück. Ende November 1986 stiftete mich mein Freund Ali, dem ich noch heute dafür dankbar bin, zu einem Stadionbesuch in Kaufbeuren an. Wir standen zusammengepfercht auf der Tortribüne beim Puck. Über sechstausend Rotgelbe peitschten ihre Mannschaft im Spitzenspiel gegen die Kölner Haie bedingungslos nach vorne. Fanatisch, aber fair. Am Ende verlor der ESVK trotz eines überragenden Pavel Richter unglücklich 3:4. Es war ein tolles Spiel mit einer engen, großartigen Atmosphäre. Seitdem zieht es mich immer wieder magisch hinauf zum Berliner Platz."

Leidenschaft und Passion hängen nicht vom Tagesgeschäft ab. Das gemeinsame Stadionerlebnis, das gemeinsame Hoffen, das gemeinsame Bangen, das Miteinander schweißen zusammen. Die Anhänger und ihren Verein, aber auch die Generationen. Nicht selten wird die enge Bindung an einen Klub vom Großvater an den Vater an den Sohn und die Tochter weitergegeben. Gemeinsame Emotionen verbinden. Freude lässt sich tatsächlich verdoppeln und Leid teilen. Beim ESV Kaufbeuren gibt es reichlich von beidem. Vielleicht liegt gerade darin sein Reiz. Er kann als Sinnbild für das Leben stehen, ist eine Leidenschaft, die Flügel verleiht, aber auch Leiden schafft. Und die Eishalle am Berliner Platz dient seit beinahe einem halben Jahrhundert als Kristallisationspunkt dieser Leidenschaft. Sie ist Ort und Hort rotgelber Gefühle. Verfügt über geheimnisvolle Anziehungskräfte, die einem gar keine Wahl lassen. Man muss da einfach hin. Unabhängig von Banalitäten wie dem Tabellenstand, der laufenden Nase, dem beißenden Frost, gegen den ohnehin lange Unterhosen helfen. Jedenfalls ein Stück weit.

Der Berliner Platz taugt nicht für das Hochglanzpapier. Dafür besitzt er eine Seele. Er atmet Eishockey. Geht man die Johannes-Haag-Straße hinunter, spürt man ihn schon, den Geist unserer alten Hütte, diesen Genius Loci, der der modernen Sportwelt vielfach abhanden gekommen ist, obwohl sie seiner doch so dringend bedürfte. Man kann ihn sich halt nicht kaufen.

Nun gut, wir wollen nicht blauäugig sein, sondern der Wirklichkeit ins Auge schauen. Weder Nostalgie noch Rührseligkeit bringen uns weiter. Die Zeit lässt sich nun einmal nicht aufhalten. Wieso auch. Man muss mit ihr gehen. Die Bedürfnisse ändern sich und mit ihnen die Notwendigkeiten. Es soll Zeitgenossen geben, die dem Luxus warmer Füße nicht abgeneigt gegenüberstehen. Ein bisschen Komfort kann also auch uns in Kaufbeuren nicht schaden. Das im Entstehen begriffene Stadion, dem eine zweite Eisfläche gut zu Gesicht stünde, kann damit dienen. Es wird ein neues Kapitel in der rotgelben Vereinsgeschichte aufschlagen und seine eigenen Geschichten schreiben. Es steht für Zeitgemäßheit, für Zuversicht und für Zukunft. Zudem wird es der unerschrockene David nicht versäumen, seine ureigene Identität mitzunehmen in seine neue Heimat.

Trotzdem legt mir die Wehmut ihren Schleier aufs Gemüt. Anno achtundsechzig habe ich an der Hand meines guten Vaters entlang dem Gasthaus Bad zum ersten Mal den schmalen Pilgerweg zum Eisstadion beschritten. Es hatte damals noch kein Dach über dem Kopf und an der Stelle, wo linkerhand einst ein unscheinbares Kassenhäuschen mit winzigen Fensterschlitzen am Jordanbächlein stand, ragen längst hohe Bäume in den Kaufbeurer Eishockeyhimmel, der zuweilen voller Geigen hängt, mitunter aber auch Tränen aus dunklen Regenwolken fallen lässt.

Eine bewegende Epoche neigt sich unaufhaltsam ihrem Ende entgegen. Die Kultbühne Berliner Platz geht in ihre letzte Spielzeit. Danach wird der Vorhang ein letztes Mal fallen und sich ein Kreis schließen. Es heißt Abschied zu nehmen von einem Sehnsuchtsort der Eishockeyseele. Noch bleibt Zeit, um seinen Geist tief einzuatmen. Ein langes, kurzes Jahr.

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